Brexit: Boris Johnson reist zum letzten Brexit-Gefecht nach Brüssel

Nicht weit auseinander? Boris Johnson und Ursula von der Leyen im Januar in London
Foto: HENRY NICHOLLS / REUTERS
Es war im Oktober vergangenen Jahres: Die Verhandlungen zwischen Brüssel und London über ein Austrittsabkommen waren hoffnungslos verfahren, beide Seiten spekulierten offen über eine schmutzige Scheidung – als Boris Johnson kurz entschlossen zu einem Hochzeitshotel südlich von Liverpool aufbrach.
Dort traf der frisch gekürte britische Premierminister den irischen Regierungschef Leo Varadkar. Stundenlang rangen beide Männer miteinander, und am Ende hatten sie den Brexit-Prozess tatsächlich gerettet. Fürs Erste.
Zwar hatte Johnson um der Einigung willen etwas getan, was nach den Worten seiner Vorgängerin Theresa May »kein britischer Premierminister« jemals tun würde: Er hatte einer faktischen Zollgrenze zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs zugestimmt. Aber in diesem aufgewühlten Herbst fiel das kaum ins Gewicht. Johnson hatte, wie versprochen, die EU zu einer Änderung des bereits geschriebenen Vertrags bewegt. Das zählte für seine Brexit-beseelte Partei. Sonst nichts. Wieder einmal lagen die Tories ihrem Anführer zu Füßen.
Die Bühne ist bereitet für ein letztes Gefecht
In den kommenden Tagen nun wird Boris Johnson erneut verreisen. Diesmal nach Brüssel, wo EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihn empfangen wird. Wieder könnte die Lage heikler nicht sein. In drei Wochen wird der Brexit endgültig vollzogen sein, die Verhandlungen über einen Handelsvertrag, der die schlimmsten Verwerfungen diesseits wie jenseits des Ärmelkanals verhindern könnte, stecken in einer Sackgasse. Firmen sind im Panikmodus, Politiker ratlos. Das Treffen auf höchster Ebene gilt als wirklich allerletzte Chance, den Brexit-GAU abzuwenden.
Wieder einmal ist die Bühne für ein letztes Gefecht bereitet. Genauso wie Johnson das wollte.
Wird er nun noch einmal das Unmögliche tun? Wird man ihn daheim in London dann wieder feiern? Und wenn ja: wofür? Dafür, dass er dem Klub der 27 einige Last-minute-Zugeständnisse abgerungen und so eine gütliche Trennung ermöglicht hat? Oder dafür, dass er viereinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum gruß- und vertragslos die Tür hinter sich zuschlägt? Niemand weiß es, vielleicht nicht mal Johnson selbst.
Klar ist, dass der 56-Jährige dringend einen politischen Erfolg braucht – oder wenigstens etwas, das sich als solcher verkaufen lässt. Exakt ein Jahr nach seinem fulminanten Wahlsieg steht der Regierungschef unter gewaltigem Druck. Das desaströse Management der Corona-Pandemie und mehrere peinliche Affären haben seinem Ansehen erheblich geschadet. Nicht nur die Briten wenden sich laut Umfragen von ihm ab, sondern zunehmend auch seine eigene Partei. Dort heißt es, den Brexit dürfe er nicht auch noch in den Sand setzen. Mehrere Tories drohen bereits offen mit einem Misstrauensvotum.
Johnsons Regierung prophezeit Brexit-Chaos
Vieles deutet darauf hin, dass Johnson ernsthaft daran interessiert ist, die künftigen Beziehungen zur EU mit einem maßgeschneiderten Vertrag zu regeln. Denn inzwischen prognostiziert auch seine eigene Regierung, die dergleichen immer als Panikmache verballhornt hat, dass ein vertragsloser Bruch zu Chaos an Fähr- und Frachthäfen führen würde, zu Milliardenverlusten für die Wirtschaft, steigenden Verbraucherpreisen, Engpässen bei lebenswichtigen Medikamenten und möglichen zivilen Unruhen.
Ein Szenario, das sich das Vereinigte Königreich schon in normalen Zeiten kaum leisten könnte – und erst recht nicht mitten in einer Pandemie, die das Land härter getroffen hat als die meisten anderen.
Johnson wird in seinem Tête-à-Tête mit von der Leyen daher wohl alles daransetzen, einige gesichtswahrende Konzessionen zu bekommen. Zum Vorteil könnte ihm dabei gereichen, dass die EU-Staaten im Brexit-Streit zuletzt nicht mehr so einig auftraten wie in den Jahren zuvor. Leichtes Spiel jedoch wird er in der EU-Hauptstadt nicht haben. Im Gegenteil.
Berlin und Paris haben sich wieder zusammengerauft
Das zeigt sich schon an der Diskussion um den noch offenen Zeitpunkt des Treffens. Laut EU-Diplomaten gibt es eine klare Bedingung: Es darf auf keinen Fall während des Treffens der EU-Staats- und Regierungschefs stattfinden, das am Donnerstag um 13 Uhr beginnt und am Freitagnachmittag enden soll. Die Gipfel-Agenda ist bereits prall gefüllt mit Problemen wie der Corona-Pandemie, dem polnisch-ungarischen Haushaltsveto und möglichen Türkei-Sanktionen. Niemand will Johnson auch noch eine Bühne für seine Brexit-Show bieten.
Auch das Gespräch mit von der Leyen dürfte für Johnson nicht leicht werden. Bevor die Kommissionschefin am Montagabend mit dem britischen Premier telefonierte, hatte sie mit Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gesprochen – und sich nach Angaben von Diplomaten die Rückendeckung des Duos gesichert.
Die Unstimmigkeiten zwischen Berlin und Paris, die vergangene Woche sichtbar geworden waren, sind inzwischen offenbar weitgehend beigelegt. In Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Dänemark hatten die Regierenden zuletzt befürchtet, Chefunterhändler Michel Barnier könnte den Briten auf deutschen und irischen Druck hin zu weit entgegenkommen. Paris drohte gar mit einem Veto gegen einen Vertrag, sollte dieser die Belange französischer Fischer nicht ausreichend berücksichtige.
Nun aber, so berichten es Diplomaten, haben Deutschland und Frankreich sich zusammengerauft – zumal auch Berlin keineswegs als Anwalt Johnsons in der EU auftritt. Zwar ist Merkel im Ton konzilianter, als Macrons Leute es sind, in der Sache aber war die Position der Kanzlerin schon immer klar: Oberste Priorität hat die Einigkeit der EU und insbesondere der Schutz des Binnenmarkts.
»Willkommen in der Realität, Herr Premierminister«
Die deutsche Industrie sieht das ähnlich – und betont, dass die EU am längeren Hebel sitzt. »Beide Seiten verlieren beim Brexit, nur das Vereinigte Königreich eben deutlich mehr«, sagte Lisandra Flach, Leiterin des Ifo-Zentrums für Außenwirtschaft, am Dienstag in München. 2019 habe Großbritannien rund die Hälfte seiner Im- und Exporte mit der EU abgewickelt. Die EU aber habe nur vier Prozent ihrer Waren und Dienstleistungen nach Großbritannien ausgeführt und sechs Prozent ihrer Importe von dort bezogen.
Auch das Europäische Parlament, das einen Vertrag am Ende ratifizieren müsste, hat bislang wenig Lust erkennen lassen, britischen Forderungen nachzugeben. Dort will man unbedingt vermeiden, dass britische Unternehmen großzügigen Zugang zum EU-Binnenmarkt bekommen, während sie zugleich EU-Regeln etwa zum Umwelt- und Arbeitsschutz unterlaufen.
»Das wäre für uns inakzeptabel«, sagt Manfred Weber (CSU), Chef der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament. Das britische Pochen auf nationale Souveränität hält Weber ohnehin für fehlgeleitet. »Wir leben in einer globalisierten Welt. Hier gibt es keine Souveränität mehr«, so Weber. »Willkommen in der Realität, Herr Premierminister.«
Die üblichen Verdächtigen wittern bereits Verrat
Zu dieser Realität gehört allerdings auch, dass Johnson irgendeinen Erfolg wird vorweisen müssen, um in London nicht politisch unter die Räder zu kommen. Die üblichen Verdächtigen jedenfalls, die schon Theresa May stürzten, haben sich längst in Stellung gebracht. Allen voran die in der European Research Group vereinten Tory-Rebellen, die Johnson vor einem »Ausverkauf« des Königreichs warnen. Angefeuert werden sie von Brexit-Blättern wie der »Daily Mail«, die jüngst kommentierte: »Sollte der Premierminister die größte demokratische Willensbildung Großbritanniens verraten, sind seine Tage gezählt.«
Zwar scheint Johnsons 80-Stimmen-Mehrheit im Unterhaus ausreichend, um ihm sein Amt in jedem Fall zu sichern. Vergangene Woche jedoch zeigte sich bei einer Abstimmung über Pandemiemaßnahmen erstmals, dass der Regierungschef im Zweifelsfall nicht mehr genügend Parteifreunde hinter sich hat.
Boris Johnson wird vor seinem Trip über den Ärmelkanal also genau abwägen müssen, wie nachgiebig er sich gegenüber Ursula von der Leyen zeigen kann. Der Vertrag mit der EU ist fast fertig geschrieben, die noch bestehenden Gräben sind überbrückbar. Aber der politische Preis ist hoch.
»Es gibt immer Spielraum für Kompromisse«, ließ Angela Merkel jüngst allen Beteiligten ausrichten. In Johnsons Fall ist der jedoch auf die Länge eines Drahtseils geschrumpft.
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