Brexit: Warum wir uns niemals an Großbritanniens EU-Austritt gewöhnen dürfen

Britischer Premierminister Boris Johnson
Foto: POOL / REUTERS
Ist überhaupt etwas passiert? Vor den Häfen verstopfen keine Lkw-Kolonnen die Straßen, an den Börsen herrscht Ruhe, und in den Regalen der Apotheken des Vereinigten Königreichs liegen weiterhin genügend Medikamente. Das große Brexit-Chaos zum Jahreswechsel, es hat nicht stattgefunden.
Haben die Brexit-Gegner übertrieben? Haben sie falsche Ängste geweckt? Ist doch alles so gut gelaufen, wie Boris Johnson es versprochen hat? Haben sie nicht. Ist es nicht.
Was wir derzeit sehen, ist ein Zerrbild. Aus Angst vor Engpässen haben britische Unternehmen bis zum Jahreswechsel ihre Lager noch einmal bis unters Dach mit Waren aufgefüllt. Doch jetzt sind viel weniger Lieferwagen unterwegs als sonst. Die Vorräte werden nicht unendlich reichen. Das Chaos ist nur vertagt. Umso erstaunlicher, wie stillschweigend, ja geradezu gleichgültig die verbliebene Union den Abschied der Briten hinnimmt.
Die Zäsur ist jetzt
Offiziell hat das Vereinigte Königreich die EU zwar bereits am 31. Januar 2020 verlassen. Doch das war nur ein Brexit auf dem Papier – mit der einzigen verschmerzbaren Veränderung, dass die Briten nicht mehr mitbestimmen durften in der EU.
Jetzt aber ist Großbritannien wirklich raus. Raus aus dem Binnenmarkt, raus aus der Zollunion, raus aus dem Erasmus-Programm, zumindest formal auch raus aus Europol. Die Zäsur ist jetzt. Der Brexit ist real.
Doch weil die Horrorschlagzeilen vorerst ausbleiben, schweigt man in Berlin, Paris oder Brüssel.
Historischer Fehler
Vielleicht müssen wir uns in diesen Tagen noch einmal daran erinnern, was der Brexit ist: ein historischer Fehler, ein selbstzerstörerischer Akt, wie es ihn in der westeuropäischen Nachkriegspolitik wohl noch nie gegeben hat.
Es existiert nach wie vor kein einziges rationales Argument für den EU-Austritt, das den Schaden aufwiegt. Im Gegenteil, schon jetzt sind die Folgen gravierend. Die Briten haben sich vier Jahre lang auf internationaler Bühne blamiert, Unsummen bezahlt, ihren eigenen Staatsapparat blockiert und die Brüsseler Politik gelähmt.
Und all das für eine Zukunft, in der sie auf sich gestellt sein werden, obwohl globale Krisen doch nur gemeinsam zu meistern sind. Eine Zukunft, in der ihre Wirtschaft leidet, Firmen abwandern und Krankenhäuser und Bauern Mühe haben werden, Personal zu finden.
Man muss kein Prophet sein, um zu wissen: Die britische Regierung wird den absehbaren Schlamassel auf alles Mögliche schieben – nur eben nicht auf den Brexit. Aktuell drängt sich die Corona-Pandemie als Ausrede für eine ökonomische Krise geradezu auf. Doch es wäre fatal, wenn die Mächtigen in Westminster damit durchkämen.
Zwar muss jetzt schleunigst wieder Routine in die deutschen und europäischen Beziehungen mit London einkehren, denn für Spielereien bleibt das Verhältnis zu wichtig: wirtschaftlich, gesellschaftlich, politisch. Eines aber darf dabei nie passieren: Niemals dürfen wir Europäer uns an den Brexit gewöhnen. Niemals dürfen wir diesen irrsinnigen Zustand normalisieren.
Skrupellose Spitzenpolitiker
Vielleicht werden die Probleme im Laufe der Zeit immer kleiner wirken. Doch wahrscheinlich ist, dass dieser Schein trügt. Millionen von Menschen sind Brexit-Opfer. Zuallererst die Briten selbst.
In Deutschland witzeln wir gern über das seltsame Inselvölkchen, das sich sozusagen selbst ins Verderben gestürzt habe. Aber so einfach ist das nicht.
Hauptverantwortlich für die Tragödie sind Menschen wie David Cameron, Boris Johnson, Michael Gove: Skrupellose Spitzenpolitiker also, die – als es konkret wurde – den Brexit für ihre machttaktischen Manöver benutzten.
Sie widerstanden den rechtsnationalen Schreihälsen nicht, sondern betrieben deren populistisches Spiel. Sie befeuerten antieuropäische Stimmungen, vor allem in den ärmsten Regionen des Königreichs, wo die Menschen für plumpe Sündenbock-Parolen besonders empfänglich waren. Regionen, die diese Mächtigen oder ihre Parteifreunde von den konservativen Tories selbst kaputtgespart hatten.
Wer den Brexit als normal akzeptiert, legitimiert im Nachgang auch diese Politik.
Brüssel muss hart bleiben
Der britische EU-Austritt darf aber keine Erfolgsgeschichte für lügende Populisten werden. Ein gefühltes »Schon in Ordnung« kann es nicht geben, wenn es in Wahrheit an allen Ecken knarzt und kracht. Was wäre das für ein Signal an andere europäische Europahasser, an potenzielle Nachahmer?
Die EU darf es London in den weiteren Handelsverhandlungen nicht zu leicht machen. Brüssel muss hart bleiben, auch wenn das ein Dilemma bedeutet. Schließlich geht es nicht darum, am Ende Bevölkerungen zu bestrafen.
Doch auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten sollte stets die bessere Alternative klar sein, verbunden mit einem realistischen Angebot: die Rückkehr des Vereinigten Königreichs in die EU.
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