Münchner Sicherheitskonferenz: Emmanuel Macron und die EU-Sicherheitspolitik in der Ära von Joe Biden

Der französische Flugzeugträger »Charles de Gaulle«: Wohin steuert Europa sicherheitspolitisch?
Foto: Christophe Ena/ AP
Ein demokratischer US-Präsident will die Asienpolitik der Vereinigten Staaten neu ausrichten. Frankreich fordert eine »strategische Autonomie« der Europäischen Union, weil es einen möglichen Rückzug der USA aus Europa fürchtet.
Kommt Ihnen das bekannt vor?
Das war in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts so. Und so ist es jetzt wieder. Die Welt hat sich seither verändert, doch die transatlantische Debatte wird seit dem Kalten Krieg immer auf die gleiche Weise geführt.
Das gilt auch für die Forderung nach »strategischer Autonomie« – was so viel bedeutet wie: mehr sicherheitspolitische Eigenständigkeit der Europäer von USA und Nato. Sie wird immer wieder als exklusiv französisches Projekt angesehen – ist es aber schon lange nicht mehr.
Diese Formel taucht schon seit den Zehnerjahren des neuen Jahrtausends in offiziellen und gemeinschaftlich abgestimmten EU-Dokumenten auf. Zwei Argumente wurden stets vorgebracht, um dieses Konzept der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zu unterstützen:
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Zum einen, so hieß es, sei das Projekt der europäischen Integration nicht vollständig ohne die Fähigkeit, militärische Stärke zu demonstrieren.
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Zum anderen könne es zu einer Situation kommen, in der die Vereinigten Staaten nicht bereit oder nicht in der Lage seien zu handeln.
Das Ergebnis: Schon 1999 definierten die EU-Mitgliedstaaten in Helsinki eine gemeinsame Verteidigungsagenda für das Bündnis.
Strategische Autonomie bedeutet nicht, strategisch autark zu sein
Es geht dabei nicht darum, eine Alternative oder gar eine Konkurrenz zur Nato aufzubauen. Noch weniger ist es das Ziel, eine vollwertige und integrierte »europäische Armee« auf die Beine zu stellen, selbst wenn dieser Begriff von einigen Politikern immer wieder verwendet wird. Frankreich, ursprünglich etwas zwiegespalten in diesem Punkt, hat diese Ideen Mitte der Neunzigerjahre aufgegeben und sich 2009 wieder der militärischen Kommandostruktur der Nato angeschlossen. (Anmerkung der Red.: Frankreich hatte die militärische Kommandostruktur des Bündnisses unter Charles de Gaulle 1966 verlassen).
Der EU-Vertrag von Lissabon, der ebenfalls 2009 in Kraft trat, enthält zwar eine Klausel zur gegenseitigen Verteidigung. Doch für die Mitgliedstaaten der EU, die auch der Nato angehören, wird in diesem Vertrag ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das militärische Bündnis Vorrang hat. Es ist auch klar, dass alle von den Europäern entwickelten Verteidigungsinstrumente – mit Ausnahme einiger Planungs-, Befehls- und Kontrollressourcen – für Nato-Operationen verfügbar sind.
Autonomie schließt zudem nicht die Möglichkeit aus, mit Nichtmitgliedern militärisch zusammenzuarbeiten. Es geht um die »Fähigkeit, autonom zu handeln, wann und wo immer nötig und gemeinsam mit Partnern, wo immer möglich«. Letztendlich bedeutet strategische Autonomie nicht, strategisch autark zu sein.
Kramp-Karrenbauer hat Macron falsch verstanden
Der Brexit, die Trump-Präsidentschaft, die Corona-Pandemie und ein zunehmend aggressiver auftretendes China zeigen, wie wichtig und wie komplex diese Debatte ist.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sah sowohl den Brexit als auch Trump als Gelegenheit, seine europäische Agenda voranzutreiben, ohne dabei die Vereinigten Staaten ersetzen zu wollen. Er geriet dabei in einen Streit mit der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer – der war aber mehr ein Missverständnis als eine tatsächliche Divergenz.
Kramp-Karrenbauer hatte im November vergangenen Jahres argumentiert, dass es an der Zeit sei, »die Illusion einer europäischen strategischen Autonomie« zu begraben. Sie hatte das Konzept so interpretiert, als gehe es darum, »die entscheidende Rolle der USA als Garant für Europas Sicherheit« ersetzen. Diese Schlussfolgerung geht aber über die Absichten Macrons hinaus.
Strategische Autonomie bedeutet nicht europäische Souveränität
In den Trump-Jahren wurden in Bezug auf die europäische Sicherheitsarchitektur schon erhebliche Fortschritte erzielt: mit der Schaffung des Rahmens für eine strukturierte Zusammenarbeit der europäischen Armeen (PESCO) und des europäischen Verteidigungsfonds (EVF).
Die strategische Autonomie deckt heute aber nach Ansicht ihrer entschiedensten Befürworter nicht mehr nur die Verteidigung des Kontinents ab. Auch Schlüsselindustrien, die Infrastruktur, die Technologien und der Gesundheitssektor Europas sollen geschützt werden. Die Idee der strategischen Autonomie bezieht sich deshalb nicht mehr nur auf die Vereinigten Staaten, sondern auch auf jede andere Großmacht – auch auf Russland oder China.
Macron steht für strategische Autonomie und europäische Souveränität ein
Macron überrascht seine europäischen Partner manchmal damit, dass er die Vereinigten Staaten mit diesen Mächten auf eine Stufe stellt. Aber seine neo-gaullistische Haltung unterscheidet dennoch zwischen Verbündeten und Nichtverbündeten. Gleichzeitig sieht er, dass auch alle miteinander konkurrieren, insbesondere im wirtschaftlichen und technologischen Bereich.
Die Ausweitung von strategischer Autonomie ist einer der Gründe, warum der Begriff zunehmend als gleichbedeutend mit europäischer Souveränität verwendet wird. Doch in Wahrheit bedeutet Souveränität etwas anderes: nicht durch ausländische Abhängigkeit oder Vormundschaft behindert zu werden. Es ist ein etwas problematischer Begriff, weil er traditionell für Staaten gilt und nicht für den Zusammenschluss von Ländern – auch wenn die Europäische Union Gegenstand des Völkerrechts und in gewisser Hinsicht eine Quasiföderation ist.
Emmanuel Macron steht für beide Konzepte ein: strategische Autonomie und europäische Souveränität. Und ihm ist bewusst, dass es hier eine begriffliche Unschärfe gibt. Die Corona-Pandemie hat ihn dazu gebracht, die Frage der Souveränität mit Vorrang zu behandeln – auf französischer wie auf europäischer Ebene. Denn das Coronavirus hat deutlich gemacht, wie sehr Europa bei der Gesundheitsversorgung von ausländischen Ressourcen abhängig ist, man denke an die Beschaffung von Masken, aber auch die Produktion von Medikamenten. So erklärt sich, warum Macron nun zunehmend den Slogan »Take back control« verwendet, der vor allem als Slogan der Brexitbefürworter bekannt ist.
Die Debatte über »Autonomie« und »Souveränität« ist ohnehin eine sehr theoretische: Am besten schließt man sie ab, indem man sie einfach als zwei Seiten derselben Medaille sieht.
Die Beziehungen zu den USA waren schon immer komplex
Doch hier kommt nun Joe Biden ins Spiel. Die Erzählung von der »Rückkehr zu den guten alten Tagen der transatlantischen Beziehungen« ist bereits gründlich entzaubert worden. Die Beziehungen zu den USA waren schon immer komplex; der Kontext ist heute ein anderer als unter Obama. Mit der Wahl des neuen US-Präsidenten geht das Risiko einher, dass die Notwendigkeit einer strategischen Autonomie Europas nun als nicht mehr so dringend wahrgenommen werden könnte. Auf dem ersten Treffen der Nato-Minister nach Trump am 17. Februar war die Stimmung freundlich, es glich einem Familientreffen.
Aber die Erfahrung der Clinton-Jahre zeigt: Selbst wenn die transatlantischen Beziehungen eher freundlich sind, sieht Washington europäische Anstrengungen kritisch, die dazu führen könnten, dass der US-Einfluss auf dem Kontinent verringert wird (und seine Rüstungsverkäufe). Die US-Regierung kann mit ihrer Politik die europäische Handlungsfreiheit einschränken – etwa mit Gesetzen, die auch außerhalb der USA gelten, insbesondere mit Sanktionen. Sie haben die Europäer schon in den Neunzigern irritiert.
Gespräche über strategische Autonomie könnten deshalb höflich bleiben, aber schwierig werden. Insbesondere wenn es um den Zugang der USA zum PESCO-Projekt geht, das die europäischen Armeen strukturiert zusammenbringen will, und zum europäischen Verteidigungsfonds. Die angestrebte strategische Autonomie der Europäer könnte aus all diesen Gründen in den kommenden vier Jahren nicht zu dem erhofften Quantensprung führen, dafür aber für Irritationen im transatlantischen Bündnis sorgen.
Die Chinafrage könnte Europa und die USA in der Nato entzweien
Trotzdem kann Europa unter Biden diese strategische Autonomie positiv und konstruktiv weiterentwickeln. Wenn sich die USA auf den Wiederaufbau im eigenen Land konzentrieren wollen, sowie auf die Ostasienpolitik, wird es einfacher sein, Washington die angestrebte Autonomie als »Form der Lastenteilung« zu verkaufen. Zumal fast jeder Euro, der von Mitgliedstaaten des Bündnisses für Verteidigung ausgegeben wird, auch der Nato zugutekommt.
Aber transatlantische Meinungsverschiedenheiten werden sich möglicherweise weniger an den europäischen Ambitionen entfachen als an der Chinafrage. Mehrere Bündnismitglieder könnten sich daran stören, wenn die Herausforderung zu viel Beachtung findet, die Peking derzeit für die Nato darstellt. Weil sie entweder befürchten, dass dies die Nato von dem notwendigen Fokus auf Russland ablenkt. Oder, dass das Mandat des Verteidigungsbündnisses über seine Kernaufgaben hinaus erweitert würde.
Die Franzosen teilen beide Einwände. Sie waren schließlich die entschiedensten Verteidiger von Artikel 5 des Nato-Vertrages, der den Bündnisfall definiert. Aber Paris ist durchaus für ernsthafte Gespräche der Bündnispartner über Einsätze in Asien, weil es glaubt, dass einige EU-Partner ihre Sicherheitspolitik zu sehr auf den einen eigenen Kontinent begrenzen.
Manche haben Macrons Verbundenheit zur Nato infrage gestellt, nachdem er 2019 in einem Interview provozierende Kommentare zum Risiko eines »Hirntods« des Bündnisses geäußert hatte. Doch ihm ging es damals um die widerstreitenden Interessen der Bündnismitglieder – vor allem in Bezug auf Syrien. Es ging ihm nicht um die Verfasstheit der Militärorganisation an sich.
Seither haben die Spannungen zwischen dem Nato-Mitgliedstaat Türkei und einigen seiner Verbündeten zugenommen. Das bestätigte Macron darin, dass er mit Recht eine »Klärung« des Platzes der Türkei innerhalb der Nato gefordert hatte. US-Präsident Biden wird absehbar eine härtere Haltung gegenüber der Türkei einnehmen als sein Vorgänger. Das könnte wiederum Erdoğans Standpunkt verschärfen.
Was aber passiert, wenn Washington nicht mehr in der Lage ist, einen offenen Konflikt zwischen der Türkei und Griechenland zu entschärfen? Würde dann Europa einschreiten? Und könnte es Zypern verteidigen – ein Nicht-Nato-Mitglied, das aber unter die Verteidigungsklausel des EU-Vertrags von Lissabon fällt? Schneller als von vielen erwartet, könnte die Situation im östlichen Mittelmeerraum zu einem ersten Testfall für die neue strategische Autonomie Europas werden.
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