Obwohl die Frist für die Mitgliedstaaten, die EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne zu verabschieden, erst im November abläuft, zeigen Untersuchungen der Gewerkschaften, dass die in den verschiedenen Ländern festgelegten Mindestlöhne bereits angehoben werden. Die Analyse wurde vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut (ETUI) durchgeführt, dem unabhängigen Forschungs- und Schulungszentrum des Europäischen Gewerkschaftsbundes, der die europäischen Gewerkschaften in einem einzigen europäischen Dachverband zusammenfasst.
Ein neuer Policy Brief des ETUI zeigt, dass die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne – noch vor ihrer formellen Umsetzung in nationales Recht, die bis zum 15. November 2024 erfolgen muss – bereits Auswirkungen auf die Festsetzung von Mindestlöhnen in einer Reihe von EU-Mitgliedstaaten wie Bulgarien, Kroatien, Deutschland, Ungarn, Irland, Lettland, Rumänien, Spanien und den Niederlanden hat.
Die neuesten Daten, die seit Anfang dieses Jahres verfügbar sind, zeigen einen erheblichen nominalen Anstieg der gesetzlichen Mindestlöhne in 15 der 22 EU-Länder, in denen der Mindestlohn auf einer gesetzlichen Grundlage beruht (in Österreich, Dänemark, Finnland, Italien und Schweden gibt es keinen gesetzlichen Mindestlohn). Hierfür sind zwei Faktoren ausschlaggebend:
1. Die anhaltend hohe Inflation in der EU, die die Sicherung der Kaufkraft der Mindestlohnempfänger zu einer politischen Priorität macht.
2. Viele Mitgliedstaaten wenden bereits die in der kürzlich verabschiedeten Richtlinie über angemessene Mindestlöhne festgelegte “doppelte Anstandsschwelle” an (definiert als 60 % des Medianlohns und 50 % des Durchschnittslohns).
Nur Slowenien erfüllt derzeit diese doppelte Anstandsschwelle, was die Notwendigkeit weiterer erheblicher Mindestlohnerhöhungen in der EU verdeutlicht. Das ETUI veranschaulicht jedoch, wie diese Schwelle bereits die Festlegung nationaler Mindestlöhne und politische Debatten beeinflusst, noch bevor sie in nationales Recht umgesetzt wird.
Die Auswirkung der doppelten Anstandsschwelle zeigt sich auf unterschiedliche Weise, z. B. durch die Verankerung des Grundsatzes von 50 % des Durchschnittslohns in der bulgarischen Gesetzgebung, die doppelte Schwelle als politische Leitlinie in Kroatien, die Festsetzung des Mindestlohns auf 60 % des Medianlohns in Zypern und die Zusage Irlands, dies ebenfalls zu tun.
In anderen Ländern beeinflusst die Richtlinie bereits die nationale Debatte über die Angemessenheit der bestehenden Mindestlöhne und bildet die Grundlage für Kampagnen der Gewerkschaften zu deren Anhebung.
Laut Torsten Müller, Autor des ETUI-Politikpapiers Dawn of a new era? The impact of the European Directive on adequate minimum wages in 2024, “zielt die Richtlinie nicht darauf ab, rechtsverbindliche Standards zu definieren, sondern einen politischen und normativen Bezugsrahmen zu schaffen. Dies gilt auch für die doppelte Anstandsschwelle.
“Dies bedeutet jedoch, dass die tatsächliche Bedeutung der Richtlinie von ihrer Nutzung durch die nationalen Akteure und ihrer effektiven Umsetzung in nationales Recht abhängt. Die entscheidende Lehre aus den bisherigen Erfahrungen ist daher, dass die Umsetzung der Richtlinie auf nationaler Ebene von all jenen fortschrittlichen Akteuren erkämpft werden muss, die sich für mehr soziale Konvergenz und weniger Lohnungleichheit und Armut am Arbeitsplatz einsetzen”.